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Was macht ein „philosophischer Seelsorger“ im Krankenhaus?
 
Philisophie im Krankenhaus - 161657.1
Der Philosophie ist alles zuzutrauen, nur eines nicht: Lebenshilfe. Das ist die Überzeugung der meisten professionellen Philosophen und, so glaube ich, auch vieler Menschen, die die Philosophie in einem Turm aus Elfenbein vermuten.

Als ich selbst Philosophie zu studieren begann, war die Suche nach Klärung von Lebensfragen, wie wohl für viele Studienanfänger der Philosophie, durchaus eine leitende Idee. Wiederholt gescheiterte Liebesbeziehungen hatten mich in große Unruhe versetzt.

Der Philosophie traute ich zu, besser zu durchschauen, was Liebe ist und wie mit ihr umzugehen sei. Die ersten beiden Studienjahre erbrachten das Ergebnis, dass die Philosophie sich um manches bemüht, aber nicht um so triviale Fragen des Lebens. Erst Jahre später lernte ich Platons „Symposion“ kennen, das von nichts anderem handelt als von der Frage, was Liebe ist und wie mit den „Dingen der Liebe“ umzugehen sei.

Hier wie auch sonst bei Platon und seinem Lehrer Sokrates ist von entscheidender Bedeutung die Frage ti estin:

Was ist das, etwa die Liebe?
Was liegt dem zugrunde?
Was steckt dahinter?
Philosophie ist zunächst nichts anderes als ein Innehalten und Nachdenken – das ist eine bescheidene Definition, aber Philosophie beginnt seit jeher mit diesem sokratischen Moment.

Der Raum der „Was ist“-Frage ist der besondere Raum der Philosophie. Menschen haben Fragen an das Leben, und nicht in irgendwelchen Fachdisziplinen ist der rechte Ort, diesen Fragen vorbehaltlos und vorurteilsfrei nachzugehen.

Dass die Philosophie den Raum für grundsätzliche Klärungsprozesse bieten kann, ist zweifellos der Grund für die wachsende Bedeutung der Philosophie in orientierungsloser Zeit; das war schon so zur Zeit des Sokrates und Platon, in signifikanter Weise erneut im Zeitalter der Aufklärung im 18. Jahrhundert, und nun am Beginn des 21. Jahrhunderts.

Sehr wohl sind die Menschen, die sich von der Philosophie Hilfestellung erhoffen bei dem Versuch, ihre Lebensfragen zu klären, hier am rechten Ort. Es geht dabei nicht um eine weitere Form von „Therapie“ und auch nicht um eine Bevormundung im Sinne eines normativen „Ratgebens“, sondern um die Klärung von Bedingungen, also dessen, „was ist“, und darüber hinaus um die Eröffnung von Optionen durch das Denken dessen, „was möglich ist“, um zur je eigenen Gestaltung des Lebens und zum Gewinn von Selbstmächtigkeit beizutragen.

Auf dieser Grundlage geht es darum, nach dem „guten“ und „schönen Leben“ zu fragen und ein bewusst geführtes Leben zu ermöglichen. Bewusst geführtes Leben: das ist Lebenskunst. Aber kann Lebenskunst ein Anliegen der Philosophie sein? Gilt Lebenskunst nicht als ein sehr oberflächlicher Begriff, der das leichte Leben meint: nichts ernst zu nehmen, immer obenauf zu sein?

Der Begriff der Lebenskunst entstammt in Wahrheit der antiken Philosophie und ist von Grund auf philosophisch. Die gesamte antike Philosophie kannte die techne tou biou und ars vitae der Sache nach, und die älteren Stoiker prägten dafür das Wort.

Philosophie ist Hilfestellung auf dem Weg zur Lebenskunst, und diese Hilfestellung findet vor allem auf der Ebene der nüchternen Analyse und des offenen Denkens statt. In diesem Sinne ist Philosophie Lebenshilfe, und dies seit jeher. Nur die moderne akademische Philosophie hat das im 19. und 20. Jahrhundert aus den Augen verloren, und dafür gab es Gründe:

In einer Zeit, in der alle Hoffnungen sich darauf richteten, mithilfe von Wissenschaft und Technik sämtliche großen und kleinen Lebensprobleme lösen zu können, bedurfte es keiner philosophischen Lebenskunst; die Philosophie sah, nicht zuletzt aus vitalen Überlebensgründen, ihre Aufgabe nur noch darin, wissenschaftliche Dienstleistung zu betreiben.

Heute dürfte sich das ändern, denn immer deutlicher wird, dass Wissenschaft und Technik zwar einige Lebensprobleme gelöst, neue aber heraufgeführt haben, mit denen viele Menschen kaum mehr zu leben verstehen. So bedarf die Zeit wieder einer Form von Philosophie, die sich den Lebensfragen stellt. Wie dies unter heutigen Bedingungen aussehen kann, lässt sich nur im Experiment erproben.

Was meinen Beitrag dazu angeht, versuche ich seit 1998 an einem Spital (jeweils zwei Wochen im September in Affoltern am Albis bei Zürich) einige Arbeit zu leisten.

Was soll ein Philosoph im Krankenhaus?
Ich selbst war derjenige, der diese Frage zuallererst stellte, denn ich konnte mir nicht vorstellen, dass die Philosophie in einem Umfeld, in dem es ums ganze Leben geht, sinnvoll sein könnte.

Aber die Spitalleitung sah das Potenzial, das in der Philosophie verborgen liegt, deutlicher. Den Anfang machte ein Essay „Vom Sinn der Schmerzen“, den ich 1995 in der Basler Zeitung publizierte. Auf allerlei Umwegen kam er in die richtigen Hände, der Chefarzt machte den Autor ausfindig und lud ihn schliesslich ein, über dieses Thema im Rahmen der hauseigenen Weiterbildung zu referieren, nebst einem gemeinsamen „Nachtessen“.

Der Vortrag vom März 1997 zog die Frage nach sich, ob es nicht Sinn hätte, auch mal selbst im Krankenhaus zu arbeiten und in der Konfrontation mit der Praxis die Idee einer neu zu begründenden Lebenskunst – die den weiteren Rahmen zum erwähnten Essay bildet – zu erproben, und zwar gerade dort, wo Menschen ihrer offenkundig am meisten bedürfen.

Die Praxis ist für Philosophen allerdings ein Ärgernis. In der Praxis kann die Philosophie scheitern, denn sie tut den Begriffen, die man sich von ihr gebildet hat, selten Genüge, und Philosophen neigen dazu, die Schuld dafür nicht so sehr bei den Begriffen zu suchen, sondern bei der Praxis, die eben selbst daran schuld ist, wenn sie den Begriffen nicht entsprechen will.

Immer birgt die Praxis für das Denken die Gefahr in sich, die Distanz zur Unmittelbarkeit, die für jedes Denken wohl wesentlich ist, verlieren zu können. Da ich mich jedoch um die Neubegründung einer „Philosophie der Lebenskunst“ bemühte, konnte ich mich nicht so ohne weiteres um die Erprobung in der Praxis drücken: Was ist eine Lebenskunst wert, die im Leben selbst nichts taugt?

Und da die Absicht nie gewesen war, nur eine Schönwetter-Lebenskunst zu entwerfen, ging ich dorthin, wo die Lebenskunst zweifellos am meisten in Frage steht. Auch sah ich die Notwendigkeit, die gesellschaftliche Ferne zu Krankheit und Tod nicht mehr nur theoretisch zu kritisieren und beredt zu beklagen (und sie zugleich im persönlichen Lebensvollzug aufrecht zu erhalten), sondern die Nähe dazu in der Praxis zu suchen. Also die Zusage, am Spital zu arbeiten, erstmals 1998, und seither regelmäßig.


I. Situation der Zeit
So kam es dazu, mit dem Blick von aussen in eine ganz andere als die gewohnte Welt einzutreten und sie ein wenig kennen zu lernen, und dies zu einer Zeit, in der vieles im Gesundheitswesen von Grund auf in Frage zu stehen begann.

Der Philosoph, der von aussen dazukommt, ist mit völlig ungewohnten Erfahrungen konfrontiert und macht sich darüber seine Gedanken, versucht Begriffe dafür zu finden und bestehende Begriffe auf ihre Inhalte hin zu befragen. Als Philosoph neigt er dazu, mit theoretischem Blick an die Dinge heranzugehen, das heisst sie in einem größeren zeitlichen Horizont und in allgemeineren Zusammenhängen zu sehen.

Was die Situation im Gesundheitswesen angeht, so zeigt sich dem Blick von aussen, dass hier eine exemplarische Diskussion stattfindet. Die Gründe für die Probleme liegen vielleicht nur vordergründig in explodierenden Kosten, in Wahrheit dürften sie, wie so vieles, von den Grundstrukturen der Zeit bedingt sein, die es genauer zu betrachten gilt.

Welche Antworten auch immer darauf gefunden werden, sie werden wohl zurückwirken auf diese Zeit und nicht etwa nur das Gesundheitswesen verändern.

Die Zeit, in der wir leben, ist „die Moderne“. Moderne, das bedeutet seit zweihundert Jahren, seit dem Zeitalter der Aufklärung, Freiheit, immer größer werdende Freiheit im Sinne der Befreiung von lästigen Bindungen, demzufolge auch immer umfangreicher werdende Möglichkeiten.

Die Triebfeder dieser Freiheit sollten von Anfang an Wissenschaft und Technik sein, angetrieben von einer freien Wirtschaft, die in deren Fortschritt investiert und davon schliesslich wieder profitiert.

Das Ziel der auf diese Weise freigesetzten Dynamik sollte „das größte Glück der größten Zahl“ sein, Glück definiert als „Maximierung von Lust, Eliminierung von Schmerz“. Angenehm zu leben, nur angenehm, und alles, was unangenehm ist, mit immer besseren Mitteln auszuschalten, das wird in moderner Zeit zum Traum aller. Und keiner stellt die Frage, ob ein so definiertes Glück überhaupt Sinn hat.

An der Wende zum 21. Jahrhundert aber sind die wissenschaftlichen, technischen und wirtschaftlichen Möglichkeiten endgültig größer geworden als die Fähigkeit, mit ihnen zurechtzukommen. Das gilt keineswegs nur im Gesundheitswesen, sondern ist ein Problem der Zeit der Moderne generell.

Das Gesundheitswesen ist lediglich der neuralgische Punkt, an dem die Diskussion unabweisbar aufbricht, denn hier begegnen sich Fragen von Leben und Tod einerseits und Fragen von Verfügungsmöglichkeiten über ideelle und materielle Ressourcen andererseits in einer Schärfe wie nirgends sonst. Und wenn auch vom größten Glück der größten Zahl kaum noch jemand träumt, so doch vom individuellen Glück eines jeden für sich selbst nahezu jeder.

Freiheit ist für die meisten Menschen ein sehr positiv besetzter Begriff. Das Problem ist nur: Freiheit bringt immer auch Kosten mit sich, ideell oder materiell. Hier soll es um spezielle Kosten gehen, die den Namen Ethik und Lebenskunst tragen: Die Menschen müssen gerade dann, wenn sie Freiheit erreichen, in aller Freiheit auch Festlegungen treffen, die die Freiheit wieder begrenzen. Sie müssen selbst ihre Haltung und ihr Verhalten wählen und ihr Leben selbst auf bewusste Weise führen, wenn sie wirklich frei leben wollen.

Grundlegend dafür ist die Wahl, nicht gleichgültig gegenüber dem eigenen Leben zu bleiben, sondern die Sorge für sich und sein Leben selbst zu übernehmen. Das Problem der Ethik ist identisch mit dem Problem der Freiheit: Freiheit zu gewinnen, sie jedoch auch bewältigen zu müssen.

Die Gestaltung des Lebens wird somit zur Aufgabe für jeden Einzelnen, zur „Autonomie“ im Wortsinne der Selbstgesetzgebung. Freiheit ist über die Befreiung (Freisein von etwas) hinaus die Arbeit an den Formen der Freiheit (Freisein zu etwas).

Was einst von Normen bewerkstelligt wurde, muss nun zur Befolgung eines Sollens aus freier Einsicht werden.

Wie kann es zur Einsicht kommen? Nur das Vermögen der Klugheit, das durch eigene Erfahrung und Überlegung wächst, kann wohl leisten, was in früheren Zeiten durch Prinzipien und Normen zustande kam, nämlich vor allem: die Freiheit nicht schrankenlos auszuleben, sondern ihr aus Freiheit Grenzen zu setzen. Dafür bedarf es keiner Moral, auf die kaum noch zu setzen ist, sondern nur einer Klugheit, die auf überlegte Weise den eigenen Interessen dient: Denn das schrankenlose Ausleben der Freiheit fällt letztlich auf den, der im Wortsinne rücksichtslos lebt, selbst zurück, zum Beispiel über wachsende Krankenkassenbeiträge.

Daraus kann folgen, aus eigener Einsicht die Ansprüche an eine Perfektionierung der oberflächlich verstandenen „Gesundheit“, die immer effizientere und kostenträchtigere Ausschaltung alles Unangenehmen und „Negativen“ zu mäßigen. Ansonsten führt der immer größer werdende Anspruch zu immer weiter wachsender Enttäuschung.

Zur Einsicht zu kommen und ihr Folge zu leisten, bedarf freilich der Ausbildung und Erlangung einer gewissen Macht über sich selbst, einer Selbstmächtigkeit, die die eigenen Ansprüche zu mäßigen weiss. Lebenskunst lässt sich nur dort gewinnen, wo das Individuum sich nicht einfach nur gehen lässt und sein Leben nur dahinlebt, sondern eine eigene Macht ins Spiel bringt, mit der es gestaltend und korrigierend in sein Leben eingreift. Wie immer diese Gestaltung und Korrektur aussieht: Sie hat zugleich verändernde Macht für die gesamte Gesellschaft, denn Gesellschaft wird nicht nur „von oben“ herab gestaltet, sondern auch „von unten“ herauf, von den Individuen und ihrer Lebensweise her. Gegenüber der großen Politik ist dies die Mikropolitik, zu der Menschen in der Lage sind.


II. Integratives Konzept
Am Spital Affoltern am Albis wird schon seit längerer Zeit versucht, neue Wege zu erproben, die Antworten auf die Probleme des Gesundheitswesens geben könnten. Es geht darum, nicht nur an Symptomen zu laborieren, sondern die Gesamtsituation gründlicher zu verstehen und auf sie zu antworten, und dies nicht nur auf struktureller Ebene, sondern durch eine Stärkung der Individuen selbst.

Die Einbeziehung anderer Disziplinen als nur der Medizin trägt dazu bei. Dieses integrative Konzept wird getragen von einem Menschenbild, das sowohl den somatischen wie auch den psychischen und geistigen Dimensionen des Menschseins Rechnung tragen kann.

Dieses Bemühen um Integration ist das, was das singuläre Experiment Affoltern auszeichnet, und es dient nicht nur auf funktionelle Weise der Institution des Spitals, sondern auf menschliche Weise den Individuen, für die das Spital zum Bezugspunkt ihres Lebens wird. Es geht dabei um die Lebensbewältigung derer, die krank sind, wie auch derjenigen, die die Kranken betreuen, sei es unmittelbar im Umgang mit ihnen, oder mittelbar aufgrund der Arbeit in der Institution, die die Kranken betreut.

Um das integrative Konzept umzusetzen, kam es frühzeitig zu einer signifikant starken Einbeziehung der Psychotherapie, die das medizinische Angebot ergänzt. Und schliesslich fiel die Entscheidung, wie dies schon im Leitbild für wünschenswert erklärt worden war, über die Psychotherapie hinaus und neben der traditionellen Einbeziehung der Theologie nun auch die Philosophie zu beteiligen, um den Lebensfragen der Patienten wie auch der im Spital tätigen Menschen mehr Raum geben zu können.

Wenn der Versuch, den Menschen als körperlich-seelisch-geistige Integrität zu verstehen, das Anliegen ist, das in Affoltern leitend ist, kann die Philosophie vielleicht dazu beitragen, über die Psychosomatik hinaus eine Noopsychosomatik zu begründen, die bei einem integrativen Verständnis des Menschseins endlich auch dem kognitiven Aspekt, der Rolle des Denkens und Nachdenkens, stärker Rechnung trägt.

Die philosophische Arbeit am Spital, die ihre Rolle im Rahmen solcher Überlegungen hat, findet in vierfacher Hinsicht statt:

In Vorträgen und Seminaren, in denen einzelne Themen (beispielsweise das Problem der „Berührung“ oder das Problem der „Macht“) exponiert, dann diskutiert und auf die Praxis am Spital und die jeweils eigene Lebenspraxis bezogen werden.

In Arbeitsgruppen, die eingerichtet werden, um bestimmten Problemen, die sich stellen, intensiv nachzugehen, beispielsweise dem Umgang mit Gewohnheiten, den eigenen und denjenigen von Patienten, oder den hermeneutischen Grundlagen eines Gesprächs.

In Einzelgesprächen mit Patienten, jedoch auch mit Pflegepersonal und Ärzten, in denen es um eine Lebenssituation oder um Gedanken zum Leben überhaupt gehen kann.

In „transversaler Arbeit“ – einem Kennenlernen der verschiedensten Abteilungen am Spital durch eine zeitlich begrenzte Mitarbeit, was ermöglichen soll, die wirklich gelebte Praxis möglichst genau kennen zu lernen und die integrativen Kräfte am Spital zu stärken.

III. Philosophische Gespräche
Vielleicht ist der Philosoph im Krankenhaus ein säkularer Seelsorger, der jedoch die Seelsorge als Anleitung eines Anderen zur Sorge für sich selbst versteht, sodass über die christliche Besetzung des Begriffs der „Sorge um die Seele und das Selbst” hinaus dessen antike Bedeutung auf neue Weise wieder Eingang in die Praxis findet.

Es ist mir jedoch klar geworden in der Zeit am Spital, dass die Funktion des Philosophen nicht mehr, wie in der Antike, die eines „Seelenarztes” sein kann, der normative Gewissheit darüber hat, wie das Leben zu leben ist.

Der Philosoph kann nicht mehr normative, nur optative Funktion haben: Optionen eröffnen, Möglichkeiten aufzeigen, das Für und Wider der verschiedenen Möglichkeiten erörtern, allenfalls einen unverbindlichen Ratschlag aus seiner eigenen Sicht geben, anhand dessen und in Auseinandersetzung damit sein Gegenüber die eigene Position finden und festlegen kann.

Philosophie der Lebenskunst, philosophische Seelsorge also, die sich als eine Anleitung zur Lebenskunst versteht, jedoch optativ: durch Erarbeiten und Aufzeigen von Möglichkeiten. Das geschieht vorzugsweise durch das Einbeziehen einer Metaebene, die das Herausspringen aus der unmittelbaren Situation erlaubt, um einen weiteren Horizont zu gewinnen, zeitlich und räumlich, im Denken und im Fühlen, vielleicht sogar im Handeln.

Es kann dabei um das Aufzeigen von Gewohnheiten und um deren Reflexion gehen, sowie um das Ausfindigmachen der Strukturen, die die Bedingungen einer Situation darstellen und die Phänomene hervortreiben, die für sich genommen kaum verständlich sind. Schliesslich aber geht es darum, danach zu fragen, was rein denkerisch noch möglich wäre, über das hinaus, was faktisch ist: Vermittlung eines umfassenden Horizonts, in dessen Rahmen das eigene Leben gesehen werden kann. Welche Wahl gibt es oder lässt sich eröffnen, zwischen welchen Alternativen?

Welche zwei, drei Möglichkeiten lassen sich ausdenken, welche dieser Möglichkeiten zieht Faszination oder wenigstens Interesse auf sich, und was wäre zu ihrer Verwirklichung wirklich zu tun, welche Organisationsarbeit, welche Gespräche von wem mit wem? Der Vorgang des Wählens selbst kann thematisiert werden. Zuletzt aber kommt es darauf an, konkrete asketische Arbeit auf der Basis einer getroffenen Wahl zu leisten, um etwa ein anderes Denken einzuüben und Gewohnheiten zu verändern.

Der Philosoph kann für vieles Verständnis haben und stellt zwar die Frage nach dem Grund, aber nicht unbedingt die nach der „Schuld“; zuweilen hat er Ideen, wie einem Engpass des Denkens und Handelns zu entkommen ist. All dies kann in einer schwierigen Lebenssituation nützlich sein.

Und in vielen Fällen hat er lediglich die Funktion eines geistigen „Nahrungsmittelvertreters“, Funktion, die gleichwohl wichtig ist, denn Menschen ernähren sich nicht nur physisch (mit Essen), psychisch (mit Gefühlen), sondern auch geistig (mit Gedanken). Das Medium, in dem das Geistige sich abspielt, ist vorzugsweise das Gespräch. Im Gespräch ist grundlegenden Zusammenhängen nachzugehen: vor allem den Wechselwirkungen von Denkkonstellationen und emotionalen bzw. körperlichen Mustern, etwa bei der individuellen Vorstellung davon, was „Leben“ oder was „Glück“ eigentlich ist.

Die Haupttätigkeit des Philosophen im Krankenhaus ist, Gespräche zu führen. Wenn Philosophie ein Innehalten und Nachdenken ist, dann ist das Gespräch das gemeinsame Innehalten und Nachdenken. Was viele suchen, ist das Gespräch über das Leben. Das Gespräch wird zum Lebensgespräch und betrifft alles, was eine Rolle fürs Leben spielt; ein Gespräch im Grunde mit jedem, in jedem Bereich und auf jeder Ebene: Im Unterschied zum therapeutischen Gespräch also nicht nur mit Patienten und nicht nur aus Anlass eines sich stellenden Problems, auch nicht zielführend im Hinblick auf eine zu findende Lösung, sondern etwa aus dem Grund, das jeweils eigene Denken zu formulieren und sich im Gespräch mit dem anderen darüber klarer zu werden, alte Anschauungen zu überprüfen und neue Anregungen aufzunehmen.

Es sind wirkliche Gespräche, geführt von mir, vom anderen und von der Situation des Gesprächs selbst. Gespräch heisst, dass nicht nur ich Fragen stelle, sondern dass dies auch meinem Gegenüber möglich ist; dass nicht nur mein Gegenüber von sich erzählt, sondern, wenn es erwünscht ist, auch ich von mir, um selbst als Selbst erkennbar zu werden, wenn auch in engerem Rahmen, um das Gespräch nicht zu sehr zu dominieren. Beide Seiten kommen zu Einsichten und vielleicht auf neue Gedanken, beide können gleichermaßen lernen in diesem Lebensgespräch.

Was geschieht eigentlich in den Gesprächen? Das ist eine entscheidende Frage. Erwartet wird etwas Spektakuläres. Aber es sind in aller Regel unspektakuläre Gespräche. Es ist beinahe unwichtig, was der Inhalt des Gesprächs ist. Das bloße Faktum scheint bereits wichtig zu sein, um zu entlasten, zu ermuntern, anzuregen, etwas zu klären, zu bereinigen, zu befreien: Darin besteht wohl der „Trost der Philosophie“. In die Gesprächssituation fliessen meinerseits so wenig Vorgaben wie möglich ein, und es gibt keinerlei Zwang, nun „helfen zu müssen“; es ist nicht einmal völlig klar, ob es überhaupt um ein „Helfen“ geht: Darüber entscheidet der Gesprächspartner ganz allein.

Ich selbst bin mehr als skeptisch, ob Philosophie in einem direkten Sinne „helfen“ kann, „Lebenshilfe“ ist sie jedenfalls nicht in diesem unmittelbaren Sinn, sondern eher im Sinne sokratischer Geburtshilfe: Das ans Tageslicht zu befördern, was im jeweiligen Menschen selbst bereits verborgen liegt; bei der Bewusstwerdung und Formulierung behilflich zu sein.
Das philosophische Gespräch ist seit der Zeit des Sokrates ein maieutisches Verfahren, eine Verfahrensweise der Geburtshilfe: dem Anderen dazu zu verhelfen, Gedanken zu gebären.

Denn nur diese Gedanken wird er als seine eigenen anerkennen, und das ist wesentlich für die Lebenskunst, denn nur den eigenen Einsichten wird er letztlich, wenn überhaupt, auch folgen. Gedanken, die ihm Zusammenhänge, Möglichkeiten, Perspektiven, Horizonte aufzuzeigen vermögen, um besser zu bewältigen, was problematisch erscheint, oder aus dem Problem herauszukommen, oder aber es als Problem zu akzeptieren, da ein problemloses Leben als unmöglich, nicht einmal als wünschbar erscheint.

Der Philosoph „muss“ nichts, er erfüllt keine bestimmte Funktion, er ist zu nichts verpflichtet. Vielleicht wird er gerade dadurch als Gesprächspartner interessant. Was zunächst nur meine Verlegenheit war – keinen Plan für die Gesprächsführung zu haben –, erwies sich als Gewinn, um offen zu sein für den Anderen und ihm wirklich zuzuhören, ohne das Gesagte bereits nach bestimmten Erklärungsmustern zu sortieren.

„Welchen Plan haben Sie?“ eröffnete eine Frau das Gespräch, die bereits sämtliche Formen von Analyse und Therapie durchlaufen hatte und es sich soeben bequem machen wollte, neugierig, mit welchem Muster man ihr diesmal beikommen wolle; sie hatte sich selbst die Rolle der amüsierten Beobachterin zugedacht, wieder „therapieresistent“, an der sich eben alle die Zähne ausbeissen, da ihr nicht zu helfen sei: Auch so kann eine „Identität“ aussehen. Es wurde ein packendes, irritierendes Gespräch über die Abgründe menschlicher Existenz.

Das Wichtigste bei diesen Gesprächen ist die Person, die Persönlichkeit; das Zweitwichtigste die Profession, der möglichst umfassende historische und systematische Horizont des Denkens, auch wenn er ganz im Hintergrund bleibt; und erst das Dritte ist der Inhalt. Zuhören können, aufmerksam den anderen wahrzunehmen, achtsam zu sein auf scheinbare Nebensächlichkeiten, die sich als „Knotenpunkte“ der Existenz erweisen können; den Anderen zur Freimütigkeit zu ermuntern, nicht so sehr durch verbale Aufforderungen, sondern durch die Situation und Atmosphäre des Gesprächs: Das sind die Grundvoraussetzungen dafür, überhaupt ins Gespräch zu kommen, und dies allein ist wesentlich; es ist unerheblich, ob „die Probleme“ rasch zur Sprache kommen und ob ein Ziel erreicht wird.

Will mein Gegenüber seine Probleme verschweigen, dann bleiben sie verschwiegen, denn auch Schweigen ist ein legitimes Mittel des Umgangs damit; will er oder sie sich bedeckt halten und nicht etwa „das Selbst offenbaren“, dann ist das zu respektieren; und jede Zielführung des Gesprächs würde schliesslich voraussetzen, dieses Ziel schon zu kennen: das aber wäre eine unangebrachte, normative Vorgabe, die sich anheischig machte, schon zu wissen, worum es geht, und dies aufgrund weniger Anhaltspunkte, die hermeneutisch äusserst fragwürdig sein müssen, da sie beispielsweise den hermeneutischen Zirkel ausser Acht lassen, wonach man erkennt, was man zuvor in das zu Erkennende selbst hineingelegt hat.

Wichtig ist, dem Gegenüber die Möglichkeit zu bieten, sich über das, was ist und was möglich ist, klarer zu werden und Plausibilität und Lebenswahrheit zu gewinnen. Das philosophische Gespräch als Übung der „Skepsis“, um nun nicht, wenn nicht gerade dies gewünscht wird, das Leben mehr oder weniger gedankenlos weiter zu leben und nicht im Netz der gewohnten Tätigkeiten zu bleiben, sondern die philosophische Tätigkeit auszuüben, also die Frage zu stellen: „was ist das eigentlich?“; Begriffe auseinander zu nehmen, um klarer zu sehen, was sie beinhalten und sie auf dieselbe oder auf veränderte Weise wieder zusammenzusetzen und für die Praxis handhabbar zu machen.

Wie die Erfahrung zeigt, kann das bloße Gespräch schon Wunder wirken. Das Selbst erfährt im Gespräch die Aufmerksamkeit, die ihm fehlte, die Zuwendung, die es entbehrte. Die bloße Aufmerksamkeit eines Anderen kann die Kräfte eines Menschen in ausserordentlichem Maße aktivieren, daher geht es zuweilen darum, nur zuzuhören, stundenlang zuzuhören. Beflügelt womöglich durch die Aufmerksamkeit, bietet das Gespräch vor allem einen Anlass zur Selbstaufmerksamkeit. So wird es zum Ereignis, in dem das Selbst von selbst sich wieder findet.

Nichts machen Menschen lieber, als „ihre Geschichte“ zu erzählen: das ist die beste Grundlage für das Gespräch. Und das hat Gründe, denn in der Erzählung konstituieren sie sich selbst, das Selbst sucht, findet und konstruiert die Zusammenhänge, die sein Leben durchziehen, und es entscheidet darüber, was davon sein „Inneres“, den Kern seiner Kohärenz bilden, was an der Peripherie bleiben soll und was nicht. Was ist Bejahenswertes für sie, was Verneinenswertes?

Die dafür erforderliche Hermeneutik der Existenz wird angestoßen durch Fragen und findet Anregung im Gespräch, das der Fokus für diese Art von Arbeit sein kann. Indem die Hermeneutik, die Arbeit der Deutung und Interpretation, in Gang kommt, stellt das Selbst die Beziehung zu sich selbst wieder her, die vielleicht verloren oder noch nie so recht gefunden worden war, und leistet damit die entscheidende Arbeit an der eigenen Kohärenz, der Zusammenfügung seiner selbst, seines Lebens und seiner Welt. Diese Zusammenfügung scheint eine entscheidende Ressource der Gesundung zu sein, denn sie erzeugt den „Sinn“, der offenkundig unentbehrlich fürs Leben ist.

Aber um die Eigentümlichkeiten der „philosophischen Seelsorge“, auch ihre Grenzen, besser kennen zu lernen, sie zu verstehen und auf den Begriff zu bringen, wird noch einige Arbeit erforderlich sein.

Dieser Artikel ist erstmals erschienen im Zuge der Veranstaltung: IN:FUSION - Was macht die Kultur mit der Gesundheit?

Wilhelm Schmid lebt als freier Philosoph in Berlin. Zuletzt erschien bei Suhrkamp sein Buch „Schönes Leben? Einführung in die Lebenskunst“. Homepage: www.lebenskunstphilosophie.de

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Autor: Wilhelm Schmid; Copyright: Wilhelm Schmid, IN:FUSION; Publiziert von: Harald Kviecien (kviecien)
factID: 161655.1; Publiziert am 02 Jul. 2004 12:44